Der Erzähler und seine Bücher
Erzählen war für Friedrich Weinreb ein schöpferischer Akt. Schon früh trat er in einer jüdischen Jugendbewegung als Erzähler hervor. Und das blieb er zeitlebens.
Im Erzählen öffnete sich ihm das Wort, das sich im Zuhörenden ebenfalls je nach seinen Gegebenheiten entfalten und verwirklichen konnte. Hin und wieder fragte sich Weinreb, wie er wohl verstanden werde: Merken die Zuhörenden, dass das, wovon er spricht, alles in ihnen lebt, dass unsere Wortwelten Erfahrungswelten kreieren, dass das Geheimnis im Menschen selbst wirksam ist. Schon früh wurde ihm klar, was Sprache eigentlich ist: »Gott erzählt. Und alles ist in unserer Sprache, in uns verborgen da,«, wie er in seiner Biographie einmal schreibt.
Seit den 1950er Jahren erzählte Weinreb an verschiedenen Orten in der Welt, wo er gerade als Professor für Ökonomie lehrte und lebte, in Vorträgen vom Menschsein und in der Weltsein. Sein Erzählen war geprägt von seiner kabbalistisch jüdischen Sichtweise und seinem eigenem Erleben.
Eine intensive Vortragstätigkeit entwickelte er Mitte der 1960er Jahre in Holland. Damals gab er Kurse in verschiedenen Städten wie Den Haag, Leiden, Utrecht und Amsterdam. Die Zuhörerschaft war kunterbunt. Neben Juden hörten ihm vorallem auch Christen, Akademiker, Nichtakademiker, Handwerker und Esoteriker zu, letztere konnten ihn selten verstehen und wandten sich oft bald wieder ab. Das blieb so vielfarbig, auch als sich ab den 1970er Jahren seine Vortragstätigkeit im ganzen deutschsprachigen Raum und oft darüber hinaus ausweitete.
Aufmerksamkeit erregt Weinreb1963 als sein Hauptwerk erschien, das Buch über das Wunder der Schöpfung mit dem holländischen Titel »De Bijbel als Schepping«. Etwas später erschien eine verkürzte deutsche Fassung mit dem Titel »Der göttliche Bauplan« und 1994 die vollständige Fassung als »Schöpfung im Wort«. Viele seiner Kurse wurden in den 60er Jahren auch erstmals auf Tonband aufgenommen. Später wurden sie dann transkribiert und publiziert. So entstand ein breites publizistisches Werk von abgeschriebenen Erzählungen, nebst den von ihm handgeschriebenen Büchern. Und das im Holländischen wie im Deutschen. Manche der holländischen Texte sind nachfolgend ins Deutsche übersetzt und publiziert worden. Und auch umgekehrt vom Deutschen ins Holländische. Wobei die Urheberrechte aller Weinreb-Bücher bei der Schweizer Weinreb-Stiftung liegen.
Was für ein begnadeter Erzähler Weinreb war, erlebte der Schreibende an seiner ersten Sommertagung 1975 in Gwatt am Thunersee. Morgens erzählte er einem holländischen Publikum die »Josephsgeschichte«, nachmittags sprach er vor deutschsprachigen Zuhörenden vom »Menschlichen Körper« aus der Sicht der Kabbala. Und abends erzählte er hie und da noch eine chassidische Geschichte – auch aus seinem eigenen Leben. Alles immer ohne Manuskript, frei im Moment aus der Fülle des Lebens schöpfend, durch Zeiten, Lebensschichten und Traumwelten hindurch. In der Art seines Erzählens manifestierte sich Weinrebs umwälzende Einsicht: Gott erzählt unser Leben in seinen Namen. Gott benennt, was ist in seinen Gottesnamen. Und in den Gottesnamen und ihren Erzählungen gestaltet sich unser Leben.
Die Publikationsgeschichte im Sinne der Übersetzungen zeigt sich gut am Beispiel der »Josephsgeschichte«. Zuerst kam 1975 die Erzählung in Gwatt, dann erschien sie als Buch in einer ersten holländischen Ausgabe 1984 und 2022 als deutschsprachiges Buch mit dem Titel »Leben in Liebe«. Die meisten der ursprünglich holländischen transkribierten Texte hat der versierte Weinrebkenner Konrad Dietzfelbinger ins Deutsche übersetzt. So auch das soeben im Jahr 2024 erschienene Buch »Die 12 Stämme, der kosmische und der irdische Mensch«. Der Kurs wurde 1966/67 in Amsterdam auf Holländisch gehalten und jetzt auf deutsch übersetzt.
Der Maggid Weinreb lässt sich hören und lesen. Vermutlich stammen die meisten der bis heute publizierten Weinreb-Bücher aus Tonaufnahmen transkribierter Texte. Und das Reservoir an Geschichten ist noch gross. Fast 600 Weinreb-Titel an Tonaufnahmen gibt es nur schon auf deutsch. Das entspricht ebenso vielen möglichen Buchtiteln.
Weinrebs aus dem Ewigen gesprochenen Worte veralten nicht. Sie sind zeitlos und überbrücken Welten, sind doch das »Ich des Erzählers« und das »Erzählte Ich« bei Weinreb eins, an die Einheit gebunden. Solcherart entfalten sich zeitlich seine Worte im Raum – bis heute.
H. Ringger